Wissenschaftlicher Beirat des Bundesernährungsministeriums übergibt Stellungnahme zur Ernährungsarmut in Deutschland unter Pandemiebedingungen an Bundesminister Cem Özdemir
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Ernährungsarmut in Deutschland durch Pandemie verstärkt

Quelle: BMEL

Der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz hat seine Stellungnahme zur "Ernährungsarmut unter Pandemiebedingungen" an das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft übergeben. Die Pandemie habe die Situation für von Ernährungsarmut betroffene Haushalte verschärft, so die Fachleute. Im Fokus der Analyse stand auch der zeitweilige Wegfall von Kita- und Schulmahlzeiten.

Die Stellungnahme befasst sich mit der Frage, wie sich die Corona-Pandemie auf von Ernährungsarmut gefährdete Menschen ausgewirkt hat und welche Maßnahmen daraus abgeleitet werden können. In ihrer Analyse legten die Fachleute den Fokus besonders auf die Auswirkungen durch die Schließung von Kitas und Schulen sowie durch die Schließung von Tafeln. Die Verpflegung in Kitas und Schulen und die kostenlose Nutzung von Lebensmitteln durch karitative Einrichtungen wie die Tafel bezeichnen die Wissenschaftler*innen als grundsätzliche Sicherheitsnetze für von Ernährungsarmut betroffene Menschen. Auf dieser Basis stellen die Autor*innen daher Schlussfolgerungen an, die sich auf die Bekämpfung von Ernährungsarmut auch außerhalb von Pandemiebedingungen beziehen.

Die Stellungnahme baut auf dem Gutachten "Politik für eine nachhaltigere Ernährung" von Juni 2020 auf, in dem der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) Ernährungsarmut als ein größer werdendes Problem in Deutschland festgestellt und bereits erste Maßnahmen vorgeschlagen hat.

„Ernährungsarmut heißt Mangel an guter und gesunder Nahrung und dazu heißt es auch noch fehlende Teilhabe. Die Corona-Pandemie hat dieses Problem noch offensichtlicher zutage treten lassen. Den Ansatz der WBAE-Stellungnahme, aus diesen Erfahrungen Schlussfolgerungen für künftige vergleichbare Krisensituationen zu ziehen, begrüße ich sehr. Die wertvollen Hinweise und Empfehlungen werden wir an die jeweils zuständigen Ministerien weiterleiten und erörtern.“
Bundesernährungsminister Cem Özdemir

Ernährungsarmut verhindert soziale Teilhabe

In Deutschland sind etwa 3,5 % der Bevölkerung (rund drei Millionen Menschen) von materieller Ernährungsarmut betroffen. Dazu zählen die Autor*innen Menschen, die sich wegen fehlender finanzieller Mittel nicht gesundheitsfördernd ernähren können. Ernährungsarmut werde als Problem in Deutschland vernachlässigt, so ein Resümee des WBAE. Ernährungsarmut schließe Menschen auch von sozialer Teilhabe aus. Gerade die Corona-Pandemie habe gezeigt, wie sich fehlende soziale Kontakte und sozialer Ausschluss auf die physische, psychische und soziale Gesundheit auswirkten. Aus Sicht des WBAE ist deshalb der integrative Blick auf die materielle und soziale Ernährungsarmut zentral, da sie sich gegenseitig verstärken können.

Wegfall von Kita- und Schulmahlzeiten

Mit Blick auf die Ernährungssituation von armutsgefährdeten Kindern und Jugendlichen in Deutschland waren Kita- und Schulschließungen als Maßnahme in der Pandemie von sehr hoher Bedeutung. Davon ausgehend, dass Kinder aus armutsgefährdeten Haushalten ein höheres Risiko für Fehlernährung hätten, könne die über Wochen ausbleibende Kita- und Schulverpflegung das Risiko einer Mangelernährung sowie für Übergewicht und Adipositas erhöhen. Zwar habe es vereinzelt etwa in Kommunen, bei Trägern oder Speisenanbietern Initiativen gegeben, fehlende Mahlzeiten aufzufangen. Beispiele für umfassende bundeslandesweite Programme hätten sich jedoch nicht finden lassen.

Internationaler Vergleich

Die Zahl der Tage mit kompletter oder teilweiser Schließung von Schulen war in Deutschland (183 Tage) mehr als dreimal so hoch wie in Frankreich (56 Tage) oder Spanien (45 Tage). Im Vergleich mit verschiedenen OECD-Ländern stellten die Fachleute außerdem fest, dass in vielen Ländern während der Pandemie spezifische Maßnahmen ergriffen wurden, die das Problem der Ernährungsarmut adressierten (z. B. Beispiel Finnland, Großbritannien, USA). Als positiv bewerteten die Wissenschaftler*innen die umfangreichen Mittel des Bundes zur Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona-Pandemie. Sie gehen davon aus, dass diese Maßnahmen weitere Haushalte vor Ernährungsarmut geschützt haben. Insgesamt zeige aber die Analyse, dass es auf Bundesebene kaum gezielte Maßnahmen gab, um den Ausfall von Kita- und Schulmahlzeiten durch alternative Formen der Bereitstellung von Lebensmitteln oder einer warmen Mahlzeit aufzufangen.

Fehlende Datenlage

Darüber hinaus habe die Analyse gezeigt, dass zu wenig Datenmaterial zur Ernährungsarmut in Deutschland zur Verfügung stehe. „Deshalb empfehlen wir, eine solide Datengrundlage zur Häufigkeit, den Ursachen und Folgen von Ernährungsarmut in Deutschland zu schaffen. Ein kontinuierliches Monitoring von materieller und sozialer Ernährungsarmut ermöglicht es, die Wirksamkeit von Gegenmaßnahmen zu überprüfen und ggf. nachzusteuern“, so Prof. Dr. Jakob Linseisen von der Universität Augsburg und Mitglied im WBAE.

Empfehlungen

Insgesamt empfiehlt der WBAE zwei Bündel von Maßnahmen, die die materiellen und sozialen Aspekte von Ernährungsarmut in den Blick nehmen:
 

  1. Maßnahmenpaket: Strategien während der Pandemie oder ähnlichen Krisen entwickeln, um Essensangebote durch die Kita- und Schulverpflegung, die Tafeln und weitere Akteure sicherzustellen.
  2. Maßnahmenpaket: Empfehlungen für grundsätzliche Maßnahmen zur Bekämpfung von Ernährungsarmut. Hier benennen die Autor*innen die Erhöhung des Regelsatzes beim Bürgergeld als wesentlich, um eine gesundheitsfördernde Ernährung zu ermöglichen. Außerdem empfehlen sie für den zentralen Bereich der Kinderernährung einen Systemwechsel zu einer integrativen und beitragsfreien Kita- und Schulverpflegung, die den Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung entspricht.
     

Ernährungsarmut sei ein Querschnittsthema, erklären die Autor*innen, das spiegele die Bandbreite der Empfehlungen wider. Zur Bewältigung von Ernährungsarmut bedürfe es einer integrativen Strategie mehrerer Bundesministerien und der Länder und Kommunen.

Lesenswertes zur News

Quellen

  • Pressemeldung des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft Nr. 32/2023 vom 20.03.2023: Wissenschaftlicher Beirat übergibt Stellungnahme zur "Ernährungsarmut unter Pandemiebedingungen"
  • Stellungnahme „Ernährungsarmut unter Pandemiebedingungen“
  • Mitteilung des Wissenschaftlichen Beirates an den Public-Health-Nutrition-Email-Verteiler vom 21.03.2023 public-health-nutrition@listserv.dfn.de